„Zum Anderen hin, auf ihn zu – und hin zu Gott. Das ist der Weg des Friedens" - Interview mit Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz

29. Jul 2024

„Zum Anderen hin, auf ihn zu – und hin zu Gott. Das ist der Weg des Friedens" - Interview mit Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz

Beim diesjährigen Libori-Fest wird morgen (Dienstag, 30. Juli) die Peacebell, die Friedensglocke der Tiny Church, gesegnet - ein Projekt des Sängers und Friedensaktivisten Michael Patrick Kelly. Um das Thema Frieden geht es auch in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins PRAXIS & NAH. Darin erläutert uns der Paderborner Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz im Interview, wie Frieden gelingen kann, im Großen ebenso wie bei jedem einzelnen Menschen. Im Wirken des Erzbischofs nehmen Bemühungen um Frieden einen wesentlichen Platz ein, unter anderem als Leiter der Arbeitsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Deutschen Bischofkonferenz. Im April hat Erzbischof Dr. Bentz Israel besucht und dabei sowohl das Leid der Menschen als auch Projekte der Hoffnung erfahren.

Herr Erzbischof, wir haben Sie als einen Menschen kennengelernt, der Optimismus ausstrahlt. Angesichts der Kriege und Konflikte dieser Tage sehen viele Menschen eher pessimistisch in die Zukunft oder haben Angst. Was sagen Sie diesen Menschen?

Es geht nicht um leichtfertigen Optimismus. Es geht um Zuversicht. Ein Wort, das ich besonders gerne mag: Welche Sicht habe ich auf die Dinge? Starre ich nur auf das, was mir Angst macht? Wie eng ist dann meine Sicht? Nehme ich meine Hoffnung in den Blick, der ich vertraue? Weite ich also meine Sicht? Daraus schöpfe ich Zuversicht und bleibe doch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität.

Die Zeiten sind wirklich schwierig. Es wäre geradezu zynisch, angesichts des unvorstellbaren Leids in vielen Regionen unserer Welt den Leuten einfach nur mit guter Laune zu kommen. Als Christ lebe ich immer in der Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was von Gott und seiner Sicht auf die Dinge sein könnte. Diese Spannung lähmt nicht, sondern setzt Energie frei: Was kann ich beitragen, dass etwas mehr von dem möglich wird, was von Gott her sein könnte? Das ist der Antrieb für den Christen, die Christin, sich in der Welt zu engagieren.

Sie leiten die Arbeitsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Deutschen Bischofkonferenz. Inwieweit bestimmt die Lage der Christinnen und Christen dort Ihr Denken?

Wir beschäftigen uns mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in diesen Ländern. Derzeit in erster Linie die Katastrophe des Krieges in Gaza und die humanitäre Notlage. Wir beraten, wie unsere christlichen Hilfswerke unterstützend tätig werden können. Es geht auch darum, wie wir diejenigen stärken, die als Kirche dort Einfluss haben auf eine mögliche positive politische und gesellschaftliche Entwicklung. Ich habe zuletzt eine Initiative besucht, die sich mit ganz konkreten Projekten an Schulen und bei Veranstaltungen für Versöhnungsdialoge zwischen Israelis und Palästinensern engagieren.

Es geht darum, die kirchlichen Akteure zu stärken. Das ist derzeit sehr schwierig, natürlich. Aber was wäre die Alternative? Dazu sind wir als Kirche da, solche Situationen nicht einfach als „gottgegeben“ hinzunehmen. Neben dieser ganz aktuellen Herausforderung gibt es für die Nahost-AG viele weitere Themen: zum Beispiel die Rolle als Kirche in der Minderheit oder Empowerment, also Befähigung und Unterstützung der Christinnen und Christen, ihre Gesellschaft auch politisch mitzugestalten und sich nicht mit einer resignativen Opferrolle zufrieden zu geben. 

Ich bin immer wieder beeindruckt, auf Menschen zu treffen, die sagen: „Wir sind nicht Christen im Orient, sondern wir sind die Christen des Orients“ - und damit Teil der Kultur und der Gesellschaft. Wir unterstützen eine Gruppe engagierter Theologen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die sich dafür engagiert, diese Rolle der Christen des Orients stark zu machen. Hinzu kommt: Die Beziehungen, die auf meinen Reisen im Auftrag der Bischofskonferenz entstanden sind, sind für alle Beteiligten ermutigend, und sie geben mir persönlich auch Kraft.

"Was kann ich beitragen, dass etwas mehr von dem möglich wird, was von Gott her sein könnte? Das ist der Antrieb für den Christen, die Christin, sich in der Welt zu engagieren."

Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz

Sie haben im April Israel besucht. Wie ist die Situation im Land und wie ist die Stimmung unter den Menschen?

Die Situation ist extrem komplex. Man muss genau hinschauen. Christen leben auf beiden Seiten des Konflikts. Es gibt Christen, die als Staatsbürger in Israel leben. Sie teilen die Angst um ihre Sicherheit mit allen anderen im Land. Manche haben Angehörige zu betrauern, die bei diesem Massaker getötet wurden. Manche Christen sind als Bürger des Staates Israel zum Militärdienst verpflichtet und sind im Gaza-Streifen eingesetzt. Dann gibt es die arabischen Christen im Westjordanland. Sie erleben, wie die anderen Palästinenser auch, dass an etlichen Orten im Westjordanland die Gewalt durch die Siedler seit dem 7. Oktober deutlich schlimmer geworden ist. Manche palästinensische Christen haben ihre Arbeitserlaubnis in Israel verloren, andere können weiter dort arbeiten. Auch im Westjordanland herrschen Angst und Unsicherheit. Und schließlich: Ich denke täglich in meinem Gebet an die Menschen in Gaza, besonders an die Christen in der Pfarrei in Gaza-Stadt, die so unmittelbar unter extrem schwierigen Bedingungen - einer humanitären Katastrophe – versuchen zu überleben.

Das ist für mich unglaublich und man könnte fast verzweifeln. Dieser humanitären Notlage wegen braucht es eine langanhaltende Waffenruhe. So schnell wie möglich. Aber natürlich auch der Geiseln wegen, die immer noch vermisst werden. Wir erleben, wie nahezu unmöglich es ist, auch nur für eine bestimmte Zeit aus der Spirale der Gewalt auszubrechen. Und um dem Elend endlich, endlich ein Ende zu setzen.

Gab es Begegnungen oder Erlebnisse, die Sie auf Frieden in der Region hoffen lassen? Kann Frieden überhaupt mehr sein als eine abstrakte Hoffnung? Und wenn ja, wie?

Über mögliche Schritte zu wirklichem Frieden gibt es viele Überlegungen, aber keine konkrete Lösung. Ratlosigkeit und Aussichtslosigkeit überall. Vieles wird von der innenpolitischen Entwicklung in Israel abhängen. Aber auch von der Bereitschaft der arabischen Staaten im Umfeld, sich verantwortlich für Lösungen zu engagieren. Eine Zweistaatenlösung, die von vielen längst abgeschrieben war, wird – in welcher Form auch immer – wohl der einzige Weg sein, nebeneinander existieren zu können. 

Es geht aber nicht nur um die große Politik. Was braucht es, um im konkreten alltäglichen Leben Initiativen der Verständigung, des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung stark zu machen? Der Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pizzaballa, sagte mir im Gespräch: Wir sind als Kirche keine Politiker. Wir haben an der Seite der Menschen zu stehen. Egal, auf welcher Seite der Konfliktparteien. Wir haben die Stimme zu erheben, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten und wo ihm seine Rechte vorenthalten werden. Das bedeutet, den Finger auch öffentlich in die Wunden zu legen, wo es notwendig ist, um auf die Situation der Leidenden aufmerksam zu machen und etwas zu bewegen. Es bedeutet aber auch ganz konkret in unseren Pfarreien, Schulen und Initiativen stark zu machen, die langfristig Samenkörner des Friedens säen: Bildung, Bildung, Bildung! Soziale Stärkung! Dialoginitiativen. Es braucht die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen auf allen Ebenen und beiden Seiten. Es braucht aber auch die Anstrengung und den Willen vieler auf beiden Seiten, den Alltag neu zu sichern.

Im April hat Erzbischof Dr. Bentz Israel besucht. Hier ist er im Gespräch mit dem Lateinischen Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbatista Kardinal Pizzaballa.
Im April hat Erzbischof Dr. Bentz Israel besucht. Hier ist er im Gespräch mit dem Lateinischen Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbatista Kardinal Pizzaballa.

Kann die katholische Kirche an Ort und Stelle vermitteln? Etwa durch Schulen oder andere karitative Einrichtungen?

Humanitäre und caritative Hilfe - nicht nur für Christen, sondern für alle Leidenden - ist immer ein zentraler Beitrag zum Frieden. Hier leistet die Kirche eine sehr, sehr gute und anerkannte Arbeit. Caritas International und Malteser International sind bei uns in Deutschland die beiden großen katholischen Akteure, die sich derzeit für die notwendige Versorgung in Gaza engagieren. Das Erzbistum Paderborn wird beide in diesem Engagement finanziell unterstützen. Ich habe schon davon gesprochen, wie die Unterstützung verschiedener Initiativen, die vor Ort konkret am Dialog zwischen Juden und Arabern arbeiten, einen Beitrag zur Versöhnung und langfristig dann zum Frieden leistet. 

„Mit Frieden gewinnt man alles“, sagt Papst Franziskus. Und so ist es auch hier: Vertreter einer solchen Friedensinitiative habe ich bei meinem letzten Besuch in Jerusalem getroffen. Sie haben mir berichtet, wie schwierig ihre Arbeit geworden ist. Unsere Schulen und Kindergärten haben das gleiche Ziel: Wer mehr voneinander weiß und wer gemeinsam lernt, kann den Anderen tiefer und besser verstehen und über sich selbst hinauswachsen. Das macht für mich Christsein mit aus: über sich selbst hinauszuwachsen. Das ist dann ein sehr nachhaltiger Beitrag zur Versöhnung. Schulen, Kindergärten und Caritas spielen dabei eine immense Rolle. Das sind wesentliche Kirchorte für den Frieden. Nicht nur im Nahen Osten. Auch bei uns.

"Ein schönes Bild für das, was unser Beitrag sein kann zum Frieden im Kleinen: Jede und jeder von uns soll von da, wo sie oder er steht, einen Schritt nach vorne kommen und auf die Anderen zugehen."

Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz

Was kann jede und jeder Einzelne ganz konkret in seinem Umfeld zum Frieden beitragen? Was können die Kolpingsfamilien unseres Diözesanverbandes tun?

Da hat Kolping hervorragende Möglichkeiten: zum Beispiel die Friedensarbeit von KOLPING INTERNATIONAL. Da geschieht so viel, auch im Hinblick auf den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt und Ausgleich. Aber auch die Kolpingsfamilien hier in unserem Bistum. Eine Frage muss uns umtreiben: Wie sehr leben wir für uns und kreisen um uns oder wie sehr leben wir unser Christsein für andere? Ein Stachel im Fleisch für alle unsere Gemeinden, Verbände, Gruppen und Einrichtungen. Was tragen wir konkret bei für das Gemeinsame? Für die Gesellschaft und die Werte, die unserer Gesellschaft Freiheit und Zusammenhalt, Gemeinwohl und Solidarität ermöglichen? Ich bin sehr froh über die Kreativität und das Engagement, das ich bei meinen Dekanatsbesuchen in der Fläche des Erzbistums kennenlernen darf.

Ich will einmal ein Bild nennen, wie im Kleinen der Frieden unter uns beginnt. Vielleicht ist ein Gedanke des Schriftstellers Navid Kermani hilfreich, den er einmal schon im Titel seines Buches ins Wort gebracht hat: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.“ Ein schönes Bild für das, was unser Beitrag sein kann zum Frieden im Kleinen: Jede und jeder von uns soll von da, wo sie oder er steht, einen Schritt nach vorne kommen und auf die Anderen zugehen. Wie gelingt das konkret? Wir brauchen die Vielfalt unserer Kompetenzen und Wege, um gemeinsam die Welt zu einem lebenswerten, friedlicheren Ort zu machen. Wir müssen aufeinander zugehen, um auf diese Art Gott selbst in der Vielfalt und Vielstimmigkeit unter uns zu erfahren. Warum sollte Gott, der alles in allem ist und alles umfasst, ein Freund von Eigenbrötlern sein? Zum Anderen hin, auf ihn zu, für ihn – und damit hin zu Gott. Das ist der Weg. Der Weg des Friedens.

Vielen Dank für das Gespräch!

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