„Ohne Ehrenamt keine Demokratie“ - Interview mit der Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh

20. Mai 2025

„Ohne Ehrenamt keine Demokratie“ - Interview mit der Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Demokratie – und niemand macht dabei mit. Dann ist es mit der Demokratie ziemlich schnell vorbei, sagt die Diplom-Psychologin, Journalistin und Hochschuldozentin Maria-Christina Nimmerfroh. Sie befasst sich in Forschung und Lehre mit diesem Thema und engagiert sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich, unter anderem in der Kommunalpolitik und im Sport. Gerade in den Städten und Gemeinden könne man keine 200 Meter weit gehen, ohne ein Ergebnis ehrenamtlichen demokratischen Engagements zu sehen. Die nachlassende Bereitschaft zum Ehrenamt sei deshalb eine Gefahr für die Demokratie, sagt uns Maria-Christina Nimmerfroh im Interview.

Warum ist in einer Demokratie das Engagement jedes einzelnen Menschen wichtig?

Eine Demokratie ist nur dann eine Demokratie, wenn sich Menschen engagieren. Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Alles, was auf verschiedenen Ebenen politisch passiert, sollte etwas mit dem zu tun haben, was die Menschen erleben. Das funktioniert nur, wenn die Menschen mitmachen. 

Aktuell erleben wir leider, dass die Bereitschaft zum politischen Mitmachen vor allem auf der kommunalen Ebene abnimmt. Damit kommen wir an ein praktisches Problem, nämlich: Wie kann man in einer Stadt oder Gemeinde entscheiden, wenn es die Leute nicht mehr gibt, die vom Gesetz her dafür vorgesehen sind, dass sie entscheiden, wo die Schule hinkommt, ob ein Schwimmbad gebaut wird oder wie das örtliche Kulturprogramm aussieht? 

Auf kommunaler Ebene kann man auf keiner Straße 200 Meter gehen, ohne das Ergebnis ehrenamtlicher kommunalpolitischer Arbeit zu sehen. Das kann eine Bank sein, eine Schule, ein Sportplatz, ein Kindergarten, die nämlich genau da sind und so aussehen, weil Kommunalpolitiker gesagt haben: „Ja, wir lassen uns wählen. Wir beschäftigen uns mit den Plänen. Wir setzen das durch und wir stehen am Ende dafür gerade.“

Welche Rolle spielen dabei Vereine, Gruppen, Nachbarschaften, auch Kolpingsfamilien?

Erst wenn man sich die wegdenkt, weiß man, wie wichtig sie sind. Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der es kein ehrenamtliches Sportangebot gibt, keine Kreisliga im Fußball, keinen Schwimmverein, keine Karnevalsfeier. Das alles beruht darauf, dass sich Leute zusammentun und das organisieren. Ich nehme den Mund mal sehr voll und sage: Wo immer in der Freizeit, vor allem an Wochenenden, Menschen etwas gemeinsam machen, außer natürlich beim Einkauf, basiert das zum überwiegenden Teil auf ehrenamtlichem Engagement.

"Wo immer in der Freizeit, vor allem an Wochenenden, Menschen etwas gemeinsam machen, basiert das zum überwiegenden Teil auf ehrenamtlichem Engagement."

Maria-Christina Nimmerfroh

Es wird immer schwerer, Menschen für ehrenamtliches Engagement zu gewinnen. Ist das eine Gefahr für die Demokratie?

Das ist eine große Gefahr. Wenn ich in meine Kolpingsfamilie oder in einen Sportverein oder in die lokale Partei gehe, dann weil ich ein Ziel habe, weil ich etwas für die Gemeinde machen möchte, weil ich Spaß an sozialer Arbeit habe oder an einem Ort, den ich anderen zugänglich machen möchte. Wenn diese Motivation nicht mehr existiert, interessiere ich mich auch für nichts mehr anderes. 

Es ist ja nicht so, als kämen die Leute nicht mehr zur Kolpingsfamilie, aber dafür wenden sie sich in Parteien der Demokratie zu. Wir wissen aus Untersuchungen, dass die Leute, die in einem Bereich ehrenamtlich aktiv sind. auch in anderen Bereichen aktiv sind. Das heißt, sie tragen diese Ideen über verschiedene Gruppen hinweg. Dieser Austausch ist wichtig. Würden die das nicht machen, blieben wir alle auf unserer kleinen privaten Scholle sitzen, hätten unser Streaming-Angebot und kümmerten uns vielleicht noch um unseren Garten, aber wir blieben in unserem kleinen Horizont hängen.

Die Idee von Demokratie ist der ständige Austausch. Die alten Griechen haben sich dafür auf einen Platz gestellt. Unsere Orte sind die Vereine, die Verbände, die Kommunalpolitik. Wo es das nicht gibt, merkt man, was fehlt. Die Leute kümmern sich um ihr Ding, fahren zur Arbeit und dann ist die Geschichte zu Ende. Dann passiert in der Gemeinde einfach nichts. Aber das alles ist Demokratie. Das Schwimmbad ist Demokratie. Der Kindergarten ist Demokratie. Die Entscheidung, wie wir mit unserer kommunalen Energieversorgung umgehen, alles das ist Demokratie. Wenn sich darum niemand kümmert, findet es einfach nicht statt.

Junge Menschen zeigen ihr demokratisches Engagement zunehmend in Initiativen wie „Fridays for Future“, aber auch der „Letzten Generation“.

Protest und Aktivismus im Rahmen der Gesetze sind absolut legitim. Die „Letzte Generation“ ist sicherlich ein Ausnahmefall. Da gehört Gesetze zu übertreten zum Prinzip. Das sehe ich persönlich kritisch. Aber grundsätzlich sind Proteste, Demonstrationen und Aktionen, die aufmerksam machen wollen, ein ganz wichtiger Teil von Demokratie.

Ich glaube, den „jungen Leuten“, die ja in Wirklichkeit keine homogene Gruppe sind, fehlt das Gefühl, mit ihren Aktionen etwas zu bewegen. In Deutschland hatten wir sehr lange Zeit eine gesunde Balance von Aufregerthemen, bei denen die Leute auf die Straße gingen, und einem zivilgesellschaftlichen Engagement, das stärker im Alltag verankert war. Den unmittelbar sichtbaren Erfolg haben wir in zivilgesellschaftlichen Kontexten wie Vereinen, Verbänden oder Kirchengemeinden ein bisschen geschlabbert. Machen wir sichtbar, was passiert? Geben wir den Leuten das Gefühl, das ist dann ein Teil ihrer Identität? Das hat unser Vereins- und Verbandsleben, das immer eine gewisse Behäbigkeit hatte, so nicht abgebildet. Darüber haben wir viele Leute verloren. Bei „Fridays for Future“ kann ich auf die Demo gehen, darüber wird berichtet, ich fühle mich aufgehoben in einer großen Menge.

Dazu kommt der Konsumgedanke. Viele, die ich heute in einem Verein oder in einem Verband engagieren, erwarten dafür eine Gegenleistung. Das war früher gar nicht die Idee. Da habe ich etwas von mir mitgebracht, nämlich Zeit, Engagement, Ideen, vielleicht ein paar Leute, damit wir gemeinsam eine größere Sache machen können. Diese Haltung ist verloren gegangen. Dieser Nutzwertgedanke von etwas, das erst mal keinen Nutzwert hat, den man ökonomisch betrachten kann, ist leider sehr ungut. Da haben wir die Kurve noch nicht gekriegt.

Die Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh während eines Vortrags.

Wie können wir die Kurve kriegen?

Wir müssen die Vorteile ehrenamtlichen Engagements viel deutlicher machen. Ich kann mich in diesem Engagement entwickeln, das müssen wir wieder deutlicher herausstellen. Hinzu kommt der Trend, sich nicht mehr lange an ein Engagement zu binden. „Oh Gott, Vorstandsamt, so und so viele Jahre muss ich zwei Mal die Woche da hin“, dazu ist die Bereitschaft nicht mehr da. Wir müssen die Aufgaben verkleinern. Diese großen, lebenslangen Bindungen an ein Engagement – ich fürchte, diese Zeiten sind vorbei.

Ist das Internet eher dabei eine Chance oder eine Gefahr?

Ende der 1990er Jahre hatten wir sehr große Hoffnungen, dass sich Menschen online an demokratischen Prozessen beteiligen können, die nicht überall hinkommen können, die nicht in der Lage sind, ständig präsent zu sein. Das ist nicht eingetreten. Wir konnten nicht mehr Leute politisieren. So traurig muss ich das an dieser Stelle sagen. Auf der individuellen Ebene finde ich wichtig, dass jeder schaut, wo er in den Sozialen Medien aufmerksam sein kann, sowohl bei der eigenen Wortwahl als auch beim Ausdruck von anderen. Wir haben das große Problem, dass Leute Quatsch in die Welt setzen und viele sich nicht dagegen wehren. Demokratie muss aber auf der individuellen Ebene wehrhaft sein. Das ist etwas, wobei jeder Einzelne etwas tun muss, weil wir sonst demokratisch versumpfen.

Auf der Ebene der gesellschaftlichen Bewegungen gibt es viele schöne Initiativen, die auch mal einen Gegenpunkt setzen, gerade in den sozialen Medien. Die mit anderen Motiven, mit einer anderen Sprache an Themen herangehen. Das wird nicht unmittelbar von einem Wahnsinnserfolg gekrönt sein. Man hat nicht zwei Millionen Follower und alles läuft super. Aber man kann die eigenen Leute stärken. Wenn Ihr Spaß habt, gemeinsam etwas zu machen, muss man das sehen, man muss das Gefühl haben, ich möchte dabei sein. Da sind Vereine und Verbände noch sehr im Berichtswesen verhaftet. Wenn da immer nur fünf Mann um ein Zelt rumstehen, am besten mit dem Rücken zum Fotografen, ist das nicht schön. Ich habe die schönsten Momente im Ehrenamt erlebt, wenn ich Spaß hatte, wenn wir gemeinsam etwas bewegt haben. Wir müssen diese Freude und die Wirksamkeit unserer Arbeit der Welt da draußen zeigen.

"Demokratie muss auf der individuellen Ebene wehrhaft sein. Das ist etwas, wobei jeder Einzelne etwas tun muss, weil wir sonst demokratisch versumpfen."

Maria-Christina Nimmerfroh

Viele haben das Gefühl, alleine nichts bewegen zu können.

Dieses Gefühl teile ich, weil Demokratie als Anfang eine Einsamkeit hat. Ich habe eine Idee, ich habe vielleicht Frust und zuerst bin ich alleine. Diesen Anfang muss ich überwinden. Dass die lokale Verankerung immer weiter gelöst wird durch längere Pendlerzeiten, ist ein Teil des Problems. Also bitte über Themen kommen, schauen, was vor Ort los ist und versuchen, die Präsenz zu erhöhen.

Die Bindung von Menschen passiert mit Präsenz. Wenn man diese Hürde überwunden hat, wenn man zwei, drei Mal in der Gruppe gewesen ist, geht man auch das vierte oder fünfte Mal hin. Das schafft die Wirksamkeit, dranzubleiben. Aber Demokratie fängt tatsächlich mit dem Gefühl an, einsam zu sein und alleine nichts zu können.

Vielen Dank für das Gespräch!

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