„Christliche Werte zeigen sich in Taten, nicht in Worten“ - Interview mit Prof. Dr. Günther Wilhelms

14. Jan 2025

„Christliche Werte zeigen sich in Taten, nicht in Worten“ - Interview mit Prof. Dr. Günther Wilhelms

Von „alarmierenden Zahlen“ spricht die Deutsche Bischofskonferenz angesichts der hohen Zahl an Kirchenaustritten. 2023 waren es rund 400.000. Verlieren mit dieser Abkehr von der Kirche auch die christlichen Werte in unserer Gesellschaft an Bedeutung? Und was bedeutet das für das Ehrenamt? Das haben wir Prof. Dr. Günter Wilhelms gefragt, von 2004 bis Ende 2024 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn. Ende vergangenen Jahres hielt Prof. Wilhelms dort seine Abschiedsvorlesung und ging in den Ruhestand.

Beginnen wir mit der grundsätzlichen Frage: Was sind Werte?

So selbstverständlich dieses Wort in den Mund genommen wird, so schwer ist es greifbar, denn Jeder hat dazu eigene Ideen im Kopf. Unter Werten versteht man so etwas wie Grundüberzeugungen, Orientierungsmarken, die aber – und jetzt wird es etwas komplizierter – alle möglichen Gestalten annehmen können. Sie können Charaktereigenschaften eines Menschen sein. Sie können Rechtsform gewinnen und in Gesetzesform gegossen sein. Sie können in einer Unternehmensphilosophie stecken, ebenso in Traditionen und Routinen. Sie finden auch in einem Sozialverband wie Kolping Ausdruck.

Werte sind nicht etwas, das fest gegründet über die Zeiten gleich bleibt, sondern Werte wandeln sich. Weil das so ist, hat sich eine eigene Disziplin etabliert, die diese Prozesse reflektiert: die Ethik. Wir schauen darauf, welche Wertentwicklungen man beobachten und wie man sie bewerten kann. Die Ethik ist eine begleitende Reflexion dessen, was man das Wertebewusstsein der Gesellschaft nennen könnte.

Jetzt kommen die christlichen Werte ins Spiel …

Werte schweben nicht irgendwo herum, sondern sie müssen konkret werden, müssen Gestalt gewinnen. Sie müssen einen Ort haben, vielleicht sogar einen Raum. Das ist in diesem Fall die Sozialgestalt der Kirche, wie sie sich in der Gesellschaft darstellt. Jetzt wird es spannend: Zu den christlichen Fundamentalwerten gehört Hoffnung, gehört Liebe, Nächstenliebe vor allem, Gottesglaube, vielleicht auch die Liebe zur Schöpfung. Aber was das konkret heißt und welche Ausdrucksformen diese Werte gewinnen, ändert sich. Das hat viel damit zu tun, wie Kirche wahrgenommen wird, nicht nur von der allgemeinen Öffentlichkeit, auch von den Gläubigen selbst.

Im Augenblick steht die Kirche enorm unter Glaubwürdigkeitsdruck. Damit sind die christlichen Werte nicht mehr klar zuzuordnen. Da kommen manche ins Grübeln: Kann die Kirche die christlichen Werte überhaupt noch glaubwürdig vertreten? Oder müssen sie woanders verortet sein? Aber wo? Sobald der Papst oder ein Bischof den Mund aufmacht, werden viele – nicht nur kritische Beobachter der Kirche – fragen: Kann diese Person das überhaupt noch sagen angesichts der Missbrauchsskandale und der Tatsache, dass sich die Kirche so schwer tut mit Demokratisierung und Öffnung? Christliche Werte sind etwas, um das die Kirche und wir Gläubigen ständig ringen müssen. Das machen wir nicht auf einer einsamen Insel, auf der es nur Gläubige gibt, sondern im Kontext der modernen Gesellschaft.

"Die Kirche steht enorm unter Glaubwürdigkeitsdruck. Damit sind die christlichen Werte nicht mehr klar zuzuordnen. (...) Christliche Werte sind etwas, um das die Kirche und wir Gläubigen ständig ringen müssen."

Prof. Dr. Günther Wilhelms

Verlieren die christlichen Werte mit der zunehmenden Abkehr der Menschen von der Kirche an Bedeutung?

Ohne die Sozialgestalt Kirche wird der Glaube nicht existieren. Man kann eine Zeit lang mit dieser Unterscheidung umgehen. Da ist die Kirche mit ihren Traditionen, Ritualen und Gebeten, und dann gibt es losgelöst davon so etwas wie den Glauben. Auf lange Frist funktioniert das aber nicht. Der subjektiv verankerte Glaube braucht Ausdrucks- und Artikulationsformen. Er braucht Gebet, Ritual, Musik, einen Raum. Wenn das wegbricht, kann der Glaube des Einzelnen nicht mehr sein. In diesem Sinne: Glaube ohne Kirche gibt es nicht.

Andererseits sind die christlichen Werte keine Werte, die nur bei uns Christen zu finden wären. Karl Rahner, der große Theologe, hat das mit dem Begriff „anonymes Christentum“ auf den Punkt gebracht: Christliche Grundüberzeugungen sind nicht ausdrücklich an den christlichen Glauben gebunden. Sie finden sich überall. Wir können nicht ernsthaft annehmen, dass wir Christen die Nächstenliebe gepachtet hätten. Das gilt auch für die große Tugend der Hoffnung. Gott sei Dank. Denn wir alle sind Kinder Gottes, nicht nur die, die zufällig in der Kirche gelandet sind.

Das heißt, die Menschen verlassen die Kirche wegen der Institution und nicht, weil sie mit christlichen Werten nichts anfangen können?

Letzteres glaube ich wirklich nicht. Die Kirche verliert immer mehr an Relevanz. Damit ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass das Bewusstsein von einer christlichen Wertvorstellung vergessen wird. Die Kirche sieht Nächstenliebe und Gottesliebe eng beieinander. Wenn sie nicht mehr da ist und keine anderen Institutionen zu finden sind … Man müsste nachdenken, welche das überhaupt sein sollen. Vielleicht die Familie?

Es gibt, so nennen das Soziologen, funktionale Äquivalente für Kirche. Man könnte auch die Kunst nennen als einen Raum, in denen Menschen eben nicht etwas leisten müssen. Wenn ich in ein Konzert gehe oder mir Kunstwerke anschaue, wird von mir nichts verlangt. Ich kann mich in diesen Räumen frei von Anforderungen und Zwängen bewegen. Das sind Bedingungen für Wertentwicklung. Das ist das, was auch die Funktion von Kirche ist. Wenn diese Orte immer weniger werden, werden wir irgendwann in einer inhumanen Gesellschaft gelandet sein.

Wie wichtig sind christliche Werte gerade heute?

Sie können die Herausforderungen der modernen Gesellschaft so zusammenfassen: Es gibt eine um sich greifende Verunsicherung der Menschen. Die Digitalisierung ist dafür ein schönes Beispiel. Auf der einen Seite viele Möglichkeiten, auf der anderen Seite Versuchungen, Verlockungen, bis hin zu Manipulation und Propaganda. Es wäre die Aufgabe der Kirche, in Zeiten, in denen die Verunsicherung immer größer wird, Hoffnung und Orientierung zu geben. Es ist nicht allein die Aufgabe der Kirche, aber es ist ihre vornehmste Aufgabe: den Menschen zu dienen. Eine weitere ganz zentrale Aufgabe ist, um die Benachteiligten, die Armen in unserer Gesellschaft zu kämpfen, ihnen zu helfen.

"Wir können nicht ernsthaft annehmen, dass wir Christen die Nächstenliebe gepachtet hätten. Das gilt auch für die große Tugend der Hoffnung. Gott sei Dank. Wir alle sind Kinder Gottes, nicht nur die, die zufällig in der Kirche gelandet sind."

Prof. Dr. Günther Wilhelms

Welche Rolle spielt dabei Kolping?

Ich beobachte schon seit langem mit Sorge, dass die Sozialverbände immer mehr an Resonanz und Mitgliedschaft verlieren. Sie sind eine der wichtigsten Formen des Engagements der Kirche in unserer Gesellschaft. Kirche ist eine Gemeinschaft, die Nächstenliebe üben möchte. Nächstenliebe muss die Bedingungen in den Blick nehmen, unter denen wir zusammenleben. Sie muss politisch werden. Der Papst erinnert immer wieder daran, dass unser Glaube im Wesen politisch ist. Deshalb muss der Glaube in allen politischen Bereichen mitwirken. Kolping ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das machen kann. Sich zusammenschließen, sich immer wieder treffen, auch miteinander feiern. Man muss eine Aufgabe annehmen, schauen, wo man helfen kann, dass unsere Gesellschaft besser wird.

Wie können wir jüngere Menschen von christlichen Werten und von einem solchen Engagement überzeugen?

Christliche Werte – davon können Sie niemanden durch bloße Rede überzeugen. Das können Sie vergessen. Sie müssen sie glaubwürdig leben. Wenn Jugendliche merken, dass sich bei Kolping Menschen treffen und auf eine bestimmte Weise miteinander umgehen, ist das spannend und regt an. Das bringt sie dazu, über den Tellerrand zu schauen. Da sind christliche Werte konkret. Alles andere ist nur Predigt oder Moralisierung. Und Predigt wollen die Menschen heute nicht mehr hören.

Die Probleme der Kirche fallen auf uns bei Kolping zurück. Welche Chancen haben wir angesichts dessen?

Das ist ganz schwierig. Die Kirche bricht weg und die Sozialverbände sind davon stark betroffen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vereine insgesamt an Akzeptanz verlieren und Institutionen in der Politik immer mehr mit Skepsis begegnet wird. Wie soll man dagegen halten? Schwierig …

Die Schlussfolgerung kann ja nicht sein: Wir kappen unsere Wurzeln.

Nein, das ist keine gute Idee. An den Wurzeln müssen Sie festhalten. Man muss sich immer wieder mit ihnen auseinandersetzen. Man kann die Tradition nicht wie ein Museumsstück pflegen. Man muss neue Formen finden, Stichwort Digitalisierung.

Mein Rat ist: Die Kirche wird nur dann überleben, wenn sie sich immer wieder ihres Dienstes vergewissert. Sie wird nicht überleben, wenn sie zwanghaft ums Überleben ringt. Dann werden die Menschen sagen: Die machen das nur, weil sie vor allem an sich selbst denken. Jesus selbst sagt: Man muss durch das, was man tut, überzeugen. Nicht nur nach Gott rufen, sondern selbst etwas tun. Nächstenliebe üben. Wenn die Kirche sich nicht immer wieder fragt, was die Menschen zu Recht von ihr erwarten, dann wird sie nicht mehr gebraucht.

Vielen Dank für das Gespräch!

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