„Fast jede Woche kam ein Hilfstransport bei uns an“ - Interview zum 2. Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine

22. Feb 2024

„Fast jede Woche kam ein Hilfstransport bei uns an“ - Interview zum 2. Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine

Zum zweiten Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat KOLPING INTERNATIONAL mit Vasyl Savka, Geschäftsführer von Kolping Ukraine, gesprochen. Im Interview berichtet er über die aktuelle Situation und das, was der Verband seit Kriegsbeginn mit seiner Arbeit bewirkt hat. Rund 2,5 Millionen Euro Spenden erreichten KOLPING INTERNATIONAL bis heute für die Ukraine-Nothilfe. Weitere große Spendensummen sowie unzählige Sachspenden kamen von anderen europäischen Kolpingebenen – Unterstützung, die weiterhin dringend benötigt wird.

Am 24. Februar jährt sich der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine zum zweiten Mal, es bricht das dritte Kriegsjahr an. Wie wird die Kolpinggemeinschaft in der Ukraine diesen Tag begehen?

Am Samstag wird jede Kolpingsfamilie einen Gottesdienst feiern, wo wir für ein schnelles Ende des Krieges beten werden und den Opfern des Krieges gedenken wollen. Wir alle haben geliebte Menschen verloren, an die wir immerzu denken, und wir wollen sie nicht vergessen und dafür danken, dass wir hier im Westen der Ukraine dank ihres Einsatzes weiter friedlich leben dürfen.

Wie präsent ist der Krieg im Westen des Landes?

Hier in der Region Bukowina oder in Transkarpatien sehen wir den Krieg nur in den Nachrichten. Unser Alltag läuft relativ unverändert weiter: Die Leute gehen arbeiten und am Wochenende sind die Restaurants voll, selbst bei Luftalarm. Darauf reagiert kaum noch jemand. Die anfängliche Angst ist weg, man hat sich irgendwie an die Bedrohung gewöhnt. Aber man sieht viel Militär auf den Straßen – auch Uniformierte, die Dokumente prüfen und Männer für die Armee rekrutieren wollen. Deshalb trifft man auf den Straßen mittlerweile nur noch wenige jüngere Männer. Sie bleiben zu Hause, aus Angst, eingezogen zu werden. In manchen Gegenden sieht man gar keine Männer unter 60 Jahren mehr, weil alle bereits bei der Armee sind.

Seit Kriegsbeginn hat das Nothilfenetzwerk Enormes geleistet, um die Menschen im Land zu unterstützen. Hast Du ein paar aktuelle Zahlen zu dieser Nothilfe?

Die Zahlen sind beeindruckend: Seit Kriegsbeginn konnten wir rund 3.800 Geflüchteten Unterkunft und Verpflegung sowie weitere Betreuung bieten. Die Suppenküche in Czernowitz hat seitdem insgesamt mehr als 400.000 warme Mahlzeiten gekocht. Mehr als 2.000 Menschen erhielten psychosoziale Unterstützung. Und was die Lieferungen an Lebensmitteln, Kleidung und sonstigen dringend nötigen Dingen betrifft, kamen bei uns insgesamt rund 500 Tonnen an humanitären Hilfsgütern an, davon 80 Tonnen im letzten Jahr. Dafür fuhr Kolping Rumänien 2023 22 Mal über die Grenze, Kolping Polen kam sechs Mal mit Lieferungen, drei Transporter kamen 2023 aus Deutschland. Und Österreich überstellte vor kurzem drei Ambulanzfahrzeuge.

Wie erlebst du die Zusammenarbeit untereinander und mit den Nachbarverbänden? Ist Kolping in Europa durch den Krieg näher zusammengerückt?

Eindeutig ja. Seit dem ersten Tag des Krieges arbeiten die Kolpingverbände in Europa wie auch die Kolpingsfamilien hier in der Ukraine enger zusammen, wir sind richtig zusammengewachsen. Das sieht man an den gemeinsamen Hilfsaktionen, an den vielen Spenden, die immer noch kommen, wenn auch nicht mehr in so großem Umfang wie früher. Kolping hält solidarisch zusammen, alle wollen helfen, auch neue Partnerschaften sind entstanden, zum Beispiel zwischen den Kolpingsfamilien Ushgorod und Krakau. Dieser Zusammenhalt ist sehr wichtig für uns. Denn wenn man weiß, dass man jemanden hinter sich hat, jemanden, auf den man sich verlassen kann, dann ist es einfacher, die Leiden und den Stress des Krieges auszuhalten.

"Seit dem ersten Tag des Krieges arbeiten die Kolpingverbände in Europa wie auch die Kolpingsfamilien hier in der Ukraine enger zusammen, wir sind richtig zusammengewachsen."

Vasyl Savka, Kolping Ukraine

Wenn Du an die ersten Kriegsmonate zurückdenkst, wie hat sich die Kolping-Nothilfe seitdem verändert?

Anfangs haben wir vor allem Geflüchteten geholfen, mit einer Unterkunft, Verpflegung und mit grundlegenden Hilfsgütern. Mittlerweile hat sich die Situation geändert. Viele Geflüchtete sind in ihre Heimatregion zurückgekehrt – nach Charkiw, nach Kiew. Viele haben die Ukraine verlassen. Trotzdem bleibt die Verpflegung von Menschen einer unserer Schwerpunkte, etwa durch die Suppenküche in Czernowitz. Hier werden weiter jeden Tag 550 Mittagessen gekocht und ausgegeben. Was Hilfsgüter angeht, so war anfangs der Bedarf an Kleidung, Schuhen oder Hygieneartikeln groß. Jetzt gibt es mehr Anfragen für Medikamente und Verbandsmaterial. Entsprechend hat sich unsere Hilfe verschoben. Wir leisten nun auch Hilfe für verwundete Zivilisten und Soldaten, versorgen zum Beispiel ein Veteranenkrankenhaus – auch mit warmen Mahlzeiten – und leiten Medikamente sowie Hilfsgüter in die umkämpften Regionen weiter. Vor kurzem kamen zudem, wie gesagt, drei von Kolping Österreich gespendete Rettungsfahrzeuge an: Sie werden an der Front für die Evakuierung verwundeter Zivilisten und Soldaten eingesetzt.

Vor dem Krieg waren soziale Projekte wie die Arbeit mit autistischen Menschen Schwerpunkte von Kolping Ukraine. Laufen diese Projekte wieder in alter Routine?

Etwa ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn haben wir angefangen, diese Projekte wiederzubeleben. Heute laufen sie weitgehend wie früher. Es haben sich aber auch neue Bereiche entwickelt, zum Beispiel die Betreuung von Kindern mit Behinderungen in der Schule. Zwei weitere Projekte für Menschen mit Behinderungen sind aktuell in Planung, ebenso haben wir neue Angebote im Bereich Betreutes Wohnen und in den Seniorenuniversitäten entwickelt. Diese Projekte laufen parallel zur Nothilfe weiter. Ein ganz neues Arbeitsfeld ist die Ausbildung von Traumafachkräften in Zusammenarbeit mit der Stiftung Wings of Hope Deutschland. Bei den Veteranen, Geflüchteten, wie auch in der Bevölkerung herrscht ein großer Bedarf an psychosozialer Hilfe. Nach Kriegsende wird dieser Bedarf noch größer sein. Seit November bilden wir in mehreren Modulen mehr als 30 Fachkräfte aus unseren Kolpingprojekten in der Traumatherapie aus. Das zweite Modul hat diese Woche begonnen. Wenn die Teilnehmer mit der Ausbildung fertig sind, werden sie in ihren Einrichtungen psychosoziale Betreuung für jährlich rund 3.000 Personen anbieten können. Für Geflüchtete hat Kolping in Czernowitz schon ein solches Angebot. Es wird generell noch viel Aufklärungsarbeit nötig sein, damit die Menschen professionelle psychologische Hilfe auch tatsächlich annehmen.

Gibt es bereits konkrete Pläne, welche Rolle Kolping Ukraine nach dem Krieg beim Wiederaufbau spielen könnte?

Wir können uns vorstellen, dass Kolping Ukraine eine wichtige Aufgabe beim Wiederaufbau übernehmen kann. Durch den Krieg haben sehr viele soziale Bereiche gelitten, zum Beispiel die Arbeit mit behinderten Menschen oder die Integration von Binnenflüchtlingen. Wir sehen unsere Rolle im Wiederaufbau solcher Dienstleistungen, wobei wir uns vorstellen können, nicht nur unsere bisherigen Schwerpunkte zu verfolgen, sondern vielleicht auch neue Arbeitsbereiche aufzubauen, etwa ein Betreutes Wohnen für ältere Menschen. Oder wir haben angedacht, einen Beitrag zur Stärkung der Resilienz von Gemeinden zu leisten. Dazu gehört es, die Fachkräfte vor Ort weiterzubilden, damit sie bessere soziale, psychosoziale oder juristische Dienstleistungen für die Bevölkerung anbieten können.

"Wir leisten auch Hilfe für verwundete Zivilisten und Soldaten, versorgen zum Beispiel ein Veteranenkrankenhaus – auch mit warmen Mahlzeiten – und leiten Medikamente sowie Hilfsgüter in die umkämpften Regionen weiter."

Vasyl Savka, Kolping Ukraine

Die ständigen Kampfhandlungen im Land, der Verlust geliebter Menschen und die enormen Herausforderungen des Kriegsalltags – all das kostet viel Kraft. Woraus schöpft Ihr die nötige Energie für die tägliche Arbeit?

Was am stärksten hilft, ist, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, einfach alles zu leisten, damit wir maximal vielen Menschen helfen können. Das hört sich vielleicht paradox an. Aber die Konzentration auf die tägliche Arbeit hilft. Wenn man sich jeden Tag um Menschen kümmert und von ihnen die Rückmeldung erhält, dass man ihr Leid lindern konnte – zum Beispiel, wenn wir Kinder in der Donezk-Region besuchen und sehen, wie sie sich über die mitgebrachten Sachen freuen und wie sehr sie ihnen helfen – dann gibt das Kraft für die weitere Arbeit. Aber auch der Rückhalt in der Familie, bei Freunden, das Verbringen schöner Momente und nicht zuletzt der Glaube an ein baldiges Kriegsende helfen, neue Energie zu schöpfen.

Das Interesse der Weltöffentlichkeit am Ukraine-Krieg hat nach zwei Jahren nachgelassen. Der neue Krieg in Nahost ist vermehrt in den Fokus gerückt. Spürt Ihr das in Eurem Alltag?

An der weltweiten Unterstützung wie etwa den Waffenlieferungen spürt man das schon, aber weniger bei uns im Alltag. Was man spürt, ist eine Erschöpfung der Menschen nach zwei Jahren Krieg – bei uns in der Bevölkerung wie auch bei Spendern. Ich kann verstehen, dass die Menschen nicht mehr so viel spenden können wie früher. Die humanitären Hilfslieferungen sind dadurch weniger geworden, nicht nur bei uns. Früher kam fast jede Woche ein Hilfstransport bei uns an, nun bestenfalls einmal im Monat. Der Bedarf bleibt hingegen groß. Wir haben es zum Glück aber geschafft, immer wieder neue Unterstützer und Kooperationspartner zu finden. Kolping Ukraine hat sich als ein sehr verlässlicher Akteur in der Nothilfe etabliert, und viele Spender wollen mit uns zusammenarbeiten. Bei anderen Organisationen hört man aber auch, dass die humanitären Hilfslieferungen dramatisch weniger werden. Das ist insgesamt schwer verständlich, weil die Ukraine quasi in erster Reihe für Europa kämpft. Der Angriff Russlands auf die Ukraine und dieser Krieg sind eine gesamteuropäische Bedrohung. Wir wissen nicht, was die Zukunft noch bringen wird.

Die Nationalflagge der Ukraine weht im Wind.

Welche Hoffnungen habt Ihr für die Zukunft, und welche Wünsche – auch an die weltweite Kolpinggemeinschaft?

Wir alle teilen die große Hoffnung, dass der Krieg bald endet. Das zu erreichen, liegt nicht in der Macht der Kolpinggemeinschaft. Aber was wir tun können, ist, solidarisch zusammenzuhalten. Und wenn noch etwas Unterstützung käme, wären wir alle hier sehr froh. Egal, ob es Medikamente, Verbandsmaterialien, Lebensmittel, Tierfutter, Generatoren, Autos oder Ambulanzen sind – wir sind für jede Hilfe dankbar. Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich für alles bedanken, was sämtliche Kolpingebenen in den vergangenen zwei Jahren an Engagement, Spenden und sonstiger Unterstützung für unsere Nothilfe geleistet haben. Zu wissen, dass man nicht alleine ist, dass Ihr alle hinter uns steht, das bedeutet uns viel und gibt uns Kraft, um weiterzumachen.

Vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Dir und Deinem Team weiterhin viel Kraft und Erfolg bei dieser wichtigen Arbeit.

(Das Interview führte Michaela Roemkens.)

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